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Erinnerung an den Maler Gerhard Stengel
Am 13. Januar 2015 jรคhrte sich der Geburtstag des Dresdner Malers, Grafikers und Pรคdagogen Gerhard Stengel zum einhundertsten Male. Ein nur รคuรerer Anlass, uns wieder dieses leidenschaftlichen Malers, seiner fein empfundenen Gemรคlde, Aquarelle und Zeichnungen, ihrer รคsthetischen Schรถnheit und Ausstrahlung zu vergewissern.

Foto: T. Stengel/wikimedia, CC-BY-SA
Er schuf in groรer Souverรคnitรคt ein ernsthaftes, ausdrucksstarkes Mal- und Zeichenwerk, das sich fernab modischer Trends unter komplizierten historischen Bedingungen in der 2. Hรคlfte des 20.Jhs. in einer prรคgenden Bindung an Dresden und Ahrenshoopย und in einer ungemein lebendigen, aktiven โkรผnstlerischen Landnahmeโ auf fast allen Kontinenten entwickeln konnte. Er hat die Landschaftsmalerei in Zeiten der Vorherrschaft vieler abstrakter Kunstrichtungen oder der sozialrealistischen Genremalerei als zeitimmanenten Ausdruck รผberzeugend zu Akzeptanz und Anerkennungย verholfen. Mit seinen groรen heimischen, wie fremdlรคndischen Panoramen steht er in einer Reihe mit namhaften impressionistischen Malern von Max Slevogt bis Oskar Kokoschka.
Wie bei vielen Kรผnstlern seiner Generation stand am Anfang seiner kรผnstlerischen Entwicklung das solide erarbeitete Handwerk des Dekorationsmalers und das Meisterdiplom an der Leipziger technischen Lehranstalt, das ihm den Weg zur akademischen Bildung in Leipzig und Wien erschloss. Wenngleich er an der Akademie fรผr Graphische Kรผnste und Buchgewerbe eher zeichnerisch ausgebildet worden war, war sein Bestreben doch immer auf das Malerische orientiert. Diese Ausbildung im Grafischen Gewerbe aber macht verstรคndlich, dass Aquarellkasten undย Zeichenstift seine bevorzugten Arbeitsmittel auf Studienreisen wurden und dass sie auch seine Arbeitsweise zum intuitiven Erfassen seiner Eindrรผcke in der Fremde bestimmten. Die an Leipzig anschlieรenden Studien an der Wiener Kunstakademie haben seine kรผnstlerische Handschrift geformt, sein malerischesย Kรถnnen wesentlich bereichert,ย und รผber technologische Studien sein Verstรคndnis fรผr die Farbe als psychisches Ausdrucksmittel vertiefen kรถnnen.
Dass Gerhard Stengel nach Abschluss seiner Studien seinen Lebensunterhalt als Lehrer fรผr Kunst und Kunstgeschichte am Richard-Leibniz-Gymnasium Leipzig bestreiten musste, eint ihn mit vielen zeitgenรถssischen Malern, wie mit dem Dresdner Maler Herbert Vogt, der nach den Studien an der Dresdner Akademie an den Schulen Schloss Salem am Bodensee lehrte. Gerhard Stengel sah, wie Herbert Vogt, die Kunsterziehungslehre nicht nur als Broterwerb. Er wollte aus innerer รberzeugung jungen Menschen die Kunst รผber die Kunstgeschichte, aktiven Mal- und Zeichenunterricht nahe bringen. Diese mit voller Begeisterung wahrgenommene pรคdagogische Arbeit brachte ihm die Berufung an die Hochschule fรผr Bildende Kรผnste Dresden ein, wo er schon nach einer einjรคhrigen Aspirantur eine Dozentur undย spรคter eine Professur erhielt, die ihn bis zur Emeritierung an Dresden band. Beruf und Berufung, lehren und malen vermochte er so in Einklang zu bringen.

Foto: T. Stengel/wikimedia CC-BY-SA
Der in seinem Atelier auf der Franz-Curti-Straรe aufbewahrte kรผnstlerische Nachlass bietet immer nochย eine unerschรถpfliche Quelle fรผr monografische undย thematische Ausstellungen, wie sie in diesem Jahr u.a. vom Kunstkaten Ahrenshoop vorbereitet wird.ย Sie wird erneut die Mรถglichkeit bieten, sein Werk, das in den politisch brisanten und gesellschaftlich komplizierten Jahren der zweiten Hรคlfte des vergangenen Jahrhunderts entstand, nicht aus den Augen zu verlieren und in das kulturelle Leben heute einzubringen. Wenn einzelne Werke in den zahlreichen privaten Sammlungen auch immer prรคsent sind, so ist doch die ausstrahlende Ambivalenz der groรartig komponierten รlgemรคlde, der farbsinfonischenย Aquarelle, der gezeichnetenย und lithografierten Tagebรผcher und Reportagen in der ihnen innewohnenden Aussage als Zeitzeichen, nur auf solchen Ausstellungen wahrzunehmen.
Wir erinnern an die Gedenk-Ausstellung seines Werkes in der Galerie des sรคchsischen Regierungsprรคsidiums, 2005, die zuletzt noch einmal einen gรผltigen retrospektiven Einblick in sein umfangreiches Gesamtschaffen geben konnte. Sie gewรคhrte einen umfassenden รberblick รผber sein Gesamtwerk und verwies noch einmal auf seine eindrucksvollen heimischen und exotischen Landschaften in der meisterhaften Beherrschung der Aquarellmalerei und der Lithografie. Zuvor hatte er selbst noch die umfangreichen Ausstellungen in der Villa Skell in Schmiedeberg und in den Rรคumen der Dresdner Bank gegenรผber dem Kronentor des Dresdner Zwingers unmittelbar aus der Fรผlle seines Ateliers in Dresden und seines Sommerateliers an der Ostseekรผste zusammenstellen und hรคngen kรถnnen. Noch einmal bestimmte er selbst Gesicht und Aussage seiner Ausstellungen, formte er Rhythmik und Harmonie der Farbwerte der Bildwรคnde. รberzeugend vermochte er so seine innere Sicht aufย Natur und urbanisierte Landschaft in diesen Ausstellungenย gewissermaรen als ein Gesamtkunstwerk darzustellen.
Diese Ausstellungen belegten รผberzeugend, dass Gerhard Stengel in der Tradition des bedeutenden Dresdner Landschaftsmalers Gotthardt Kuehl steht und dass er nach Kirchner und Kokoschka zeitgleich mit Bernhard Kretzschmar undย Ernst Hassebrauk genannt werden muss, weil er Dresden mit seinen architektonischen Schรคtzen von der Oper bis zum Albertinum neben den Elbhanglandschaftenย in einer eigenwilligen und ganz eigenen expressiven realistischen Bildsprache als sein Credo einer urbanen Landschaft als Lebensraum darzustellen wusste.ย Dass Gerhard Stengel auch gleichzeitig derย norddeutschen Kรผnstlerkolonie Ahrenshoop verpflichtet ist, belegt die andere Seite seines Werkes, das ganz unabhรคngig von Dresden und auch von seinen Studienreisen von Sibirien bis Mexico, im Norden entstanden ist. Das von der Ostsee und der Boddenlandschaft umschlossene Fischland mit seinen Weitsichten und phantastischen Wettergebilden ist eine seiner wesentlichen kรผnstlerischen Quellen gewesen.

Foto: T. Stengel/wikimedia CC-BY-SA
Wenn wir seine groรen Aquarellgemรคlde heute wahrnehmen โ und sie hรคngen ja in vielen privaten Wohnbereichen โ wird man feststellen mรผssen, dass seine Bildweltย entschiedenย von seiner inneren Bindung an sein Gegenรผber bestimmt war, รคhnlich seinem Verhรคltnis zum Portrรคtierten bei seinen Bildnissen. Die Art und Weise, wie er sich seinen Modellen nรคherte, war ganz und gar โaltmodischโ. Seine Arbeiten lassen unschwer erkennen, dass die Idee der Grรผnder der Kรผnstlerkolonien zu Beginn des Industriezeitalters, die Natur wieder als Lehrmeisterin anzunehmen und in den Freirรคumen einer lichtdurchfluteten Landschaft das Natรผrliche und das Charakteristische zu finden, รผber alle Stilrichtungen der Moderne hinweg lebendig geblieben ist.
Diese seinerzeit befreiende Idee der Pleinairmalerย โvor Ortโ zu malen und so einen Ausweg aus der verkrusteten Ateliermalerei zu finden, fand in Gerhard Stengel einen รผberzeugten Verfechter in der Kunst der Gegenwart, die sich in vielfacher Hinsicht unter Eroberungย undย Zuhilfenahme neuer Medien wieder in das Atelier oder in das Laboratorium zurรผckgezogen hat.
Ein bis heute unentdeckter Schatz im Dresdner Atelier sind die in der frรผhen Such- und Wanderzeit gezeichnete und gemaltenย โKรผnstlerpostkartenโ. Diese postalischenย Lebenszeichen eines jungenย Malers sind nie verรถffentlicht worden, aber sie haben ihren besonderen Reiz, weil sie die Adressatin โ und das war seine Anne โ an seinen Erlebnissen teilnehmen lieรen. Diese รผberwiegend wirklich im Postkartenformat gezeichneten und mit Wasserfarben festgehaltenen Ansichten der hanseatischen Hรคfen oder der dรถrflichen Idylle in den vom Schilf umstandenen Anlegestellen mit den Fischerbooten, den Darstellungen des Strandlebens oder der Strandpromenaden sind beachtenswerte Zeitdokumente. Sie offenbaren zweifellos schon in den frรผhen 50er Jahren seine bis ins hohe Alter nie versiegende Lust am spontanen Erfassen des Alltรคglichen und an der dann spรคter folgenden Ausbeute, der kรผnstlerischen Umsetzung im Groรformat. Schon dieseย Skizzen beweisen seine leidenschaftliche Anteilnahme an Allem was ihn umgab oder ihm auf seinenย Reisen entgegenkam, was entdeckt und hinterfragt werden wollte. Er wollte die Komplexitรคt von Natur und Stimmung verstehen, um sie in seine Sprache umsetzen zu kรถnnen. Er wollte Landschaft nicht kopieren, nicht abmalen, kein Abbild schaffen, sondern aus der vor ihm liegenden Natur und ihrer ihm entgegenkommenden Stimmung sein in ernsthafter Zwiesprache mit der Natur entstandenes eigenes Bild โherausreiรenโ, wie es einst Albrecht Dรผrer formuliert hatte, dessen Landschaftsaquarelle Gerhard Stengel einstย faszinierten und zum Vorbild wurden.
Horst Zimmermann