Dein Warenkorb ist gerade leer!
Nachkriegszeit im Dresdner Kreuzchor
Heinrich Magirius lรคsst die Jahre 1945 โ 1952 lebendig werden, die sich auch in Loschwitz, Blasewitz und dem benachbarten Striesen abspielten.
Kรผrzlich verehrte mir mein Schul- und Kreuzchorkamerad Heinrich Magirius ein im Sax-Verlag erschienenes Bรผchlein, dessen Einband in den Kreuzschulfarben blau-weiร gestaltet und mit einer Skizze der zerstรถrten Dresdner Innenstadt auf das Zentrum der beschriebenen Handlung hinweist. Das handliche, 122 Seiten starke und reich bebilderte Buch lieร mich nicht mehr los.
Als ich es verschlungen hatte, erfuhr ich von ยปHeinerยซ, wie wir ihn nannten, vom Zustandekommen des Erinnerungsbandes auf der Basis seiner Tagebรผcher, einer nahezu vollstรคndigen Programmsammlung aus jener Zeit sowie eigener Skizzen und Aquarelle. Ich hรถrte, dass der Verlag Sorge habe, ob die erste Auflage auch verkauft werden kann. Beides motivierte mich, eine Werbe-Mail an etwa 120 Kruzianer meiner Generation (ich bin Jg. 1936) zu senden, und schon die ersten Antworten bestรคtigten meinen starken Eindruck von Magiriusโ Schilderung des Lebens in dem damaligen Kultur-Institut, das sich anschickt, in diesem Jahr seine 800-jรคhrige Existenz zu feiern.
Das Thema dรผrfte auch fรผr den Elbhang-Kurier relevant und beziehungsvoll sein, zumal in diesem Februar des 45. Todestages von Rudolf Mauersberger und zum 71. Mal der Dresdner Bombennacht zu gedenken ist, die einen tiefen Einschnitt in der Kreuzchorgeschichte bedeutete. Auch an den 275. Geburtstag des Blasewitz-Loschwitzer Kruzianers und Orgelschรผlers und spรคteren Hofkapellmeisters Johann Gottlieb Naumann wird im kommenden April zu erinnern sein; und bereits im Februar lรคsst das heutige Evangelische Kreuzgymnasium einen weiteren ehemaligen Kruzianer โ Anselmus genannt โ wieder auferstehen, wenn dort an drei Tagen das Musical ยปDer Goldene Topfยซ รผber die Bรผhne gehen wird โ mit Chor, Solisten, Tรคnzern, Orchester und Jazzband, also ganz heutig.
Als Elfjรคhriger wurde Heinrich Magirius im Herbst 1945, kriegsbedingt ein Jahr verspรคtet, in die Vorbereitungsklassse des Dresdner Kreuzchors aufgenommen, galt es doch, die elf bei den Bombenangriffen ums Leben gekommenen Kruzianer zu ersetzen. Als Kurrendaner wohnte er noch zu Hause in Radebeul. Die Straรenbahnfahrt zu den zweimal wรถchentlich von Katharina Lange-Frohberg abgehaltenen Gesangsstunden war lang und beschwerlich. Die ersten Auftritte erlebte Magirius mit seiner Vorbereitungsgruppe in der Adventszeit 1945 in Gasthรถfen Dresdner Vororte. Schon im April 1946 durfte er am Karfreitag in der Martin-Luther-Kirche im Eingangschor der Matthรคuspassion – ebenso wie der Rezensent โ mitwirken. Dieses erste groรe Erlebnis half wie viele weitere รผber die Anstrengungen und Entbehrungen jener Zeit, die detailliert und teilweise drastisch beschrieben werden, hinweg. Der Lehrkรถrper bestand aus schon pensionierten Lehrern mit politisch weiรer Weste und aus noch unerfahrenen, aber sehr motivierten Junglehrern. Oberste Prioritรคt hatte jedoch die Chorarbeit mit tรคglich ein oder zwei Proben. Die Kreuzkirche als musikalische Heimstรคtte war wie alle Innenstadtkirchen zerstรถrt. Der Chor trat deshalb als Gast in Vorstadtkirchen auf, u. a. auch in der Heilig-Geist-Kirche Blasewitz.

Foto: Slg. Magirius
Der heimatlose Kreuzchor schien in jener Zeit ohne seine eigentliche Wirkungsstรคtte fรผr die Sรคchsische Landeskirche eher eine ungeliebte Belastung darzustellen. Vieles musste durch den Kreuzkantor und den Alumnatsleiter Dr. Paul Dittrich mรผhsam bei den kirchlichen und stรคdtischen Behรถrden erkรคmpft werden, auch Lebensmittel-Sonderzuteilungen aufgrund eines Befehls 234 der Sowjetischen Militรคradministration. Finanziert wurde der Chor zu einem Drittel von der Kirche und zu zwei Dritteln von der Stadt Dresden.
Im grimmig kalten Winter 1946 konnte der Kreuzchor Anfang Februar in einen Teil des ehemaligen Freimaurerinstituts in der Eisenacher Straรe umziehen. Das Alumnat bot jetzt Platz fรผr 80 Sรคnger. Auch der Kreuzkantor, der erst 1950 ยปseinยซ Haus in Loschwitz bezog, und einige Lehrer fanden hier vorรผbergehend eine Wohnung.
Schon 1946 wurden mehrere Reisen in die nรคhere Umgebung, ins Erzgebirge und ins Vogtland unternommen. Mancher Wochenendtrip mit zwei oder drei Konzerten und einem Gottesdienst diente vor allem auch der Beschaffung von Naturalien fรผr die Alumnatskรผche. Im September 1947 brach der Kreuzchor zu einer ersten Westreise in die amerikanische Besatzungszone nach Franken und Oberbayern auf, mit Kozerten u. a. in Nรผrnberg, Mรผnchen und im Bayreuther Festspielhaus. Der Hunger nach kultureller ยปNahrungยซ war enorm. Auf der Rรผckreise konnte Rudolf Mauersberger bei einem lรคngeren Aufenthalt in Hof mit Recht feststellen, dass das kรผnstlerische Niveau des Chores nahezu wieder Vorkriegsniveau erreicht hatte.
Aus der Programmsammlung geht hervor, dass Mauersberger neben der Pflege der Musik von Heinrich Schรผtz und J. S. Bach vor allem Werke von in der Nazizeit verfemten und Werke lebender Komponisten auffรผhrte. Die Zerstรถrung der Kreuzchor-Notenbibliothek, der Stadt Dresden und der Kreuzkirche lรถste bei Rudolf Mauersberger eine ungeahnte kompositorische Produktivitรคt sowohl im geistlichen als auch im weltlichen Bereich aus. Manche Stรผcke schrieb er den damaligen Solisten wie Peter Schreier auf den Leib.
Aufgrund seiner kunstgeschichtlichen und musischen Interessen sowie durch sein zeichnerisches Geschick hatte Heinrich Magirius eine besonders enge geistige Beziehung zu Rudolf Mauersberger. Trotzdem hat er den Kantor und ยปChefยซ kritisch beobachtet. Auch andere Autoritรคten und manche Kameraden und gelegentliche ยปstaatstragendeยซ Konzertauftritte werden von ihm unter die Lupe genommen.
Alles in allem ist so ein sehr persรถnlicher Bericht รผber eine bewegende Zeit entstanden und damit ein auรerordentlich authentisches Zeugnis jener Jahre, das die schon bekannten Publikationen von Erna Hedwig Hofmann und Matthias Herrmann wunderbar ergรคnzt. Heinrich Magirius wird sicher akzeptieren, dass ich in diesen Buchbericht auch Einiges aus meinem Gedรคchtnis habe einflieรen lassen.
Hermann Winkler
(in Mรผnchen und auch in Loschwitz ยปzu Hauseยซ)
Heinrich Magirius, Nachkriegszeit im Dresdner Kreuzchor, Sax-Verlag, 2015, 19,80 Euro,
ISBN 978-3-86729-159-0