Es beginnt nicht das Paradies

Ungekรผrztes Interview mit Pfarrer i. R. Christoph Flรคmig, mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt, zum Wendejahr 1989

Christoph Flรคmig (geb. 1940) lebt als Ruhestรคndler mit seiner Frau in Loschwitz und arbeitet noch ehrenamtlich als Gemeindeberater der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens. Von 1986 bis 1997 war er Pfarrer auf dem WeiรŸen Hirsch und organisierte nach 1990 in dieser Funktion auch die Unterstรผtzung fรผr ein Kinderheim in Pribuschkoje bei Winniza (Ukraine). Er war im Dezember 1989 Mitbegrรผnder der Bรผrgervertretung WeiรŸer Hirsch und ab1990 Mitinitiator der Sozialstation BรœLOWH. Als Stadtratย  (1990 bis 1997) war er an vielen wesentlichen Entscheidungen beteiligt.

Er ist u. a. Mitglied im Fรถrderverein der Hochschule fรผr Kirchenmusik, im Fรถrderverein des Dresdner Kreuzchores, im Fรถrderverein der Sozialstation und im Fรถrderverein der StraรŸenzeitung โ€žDrobsโ€. Am 5. Dezember 2008 erhielt er fรผr sein ehrenamtliches Engagement aus der Hand des Bundesprรคsidenten Horst Kรถhler das Bundesverdienstkreuz. Christoph Flรคmig war in den Wendetagen 1989 eine Integrationsfigur, nicht nur auf dem WeiรŸen Hirsch. 20 Jahre danach fragten wir ihn nach seinen Erlebnissen und Gedanken in diesen Monaten.

Christoph Flรคmig, Pfarrer im Ruhestand โ€“ aber nicht auรŸer Dienst. Foto: Jรผrgen Frohse
Christoph Flรคmig, Pfarrer im Ruhestand โ€“ aber nicht auรŸer Dienst.
Foto: Jรผrgen Frohse

Elbhang-Kurier: Herr Flรคmig, herzlichen Glรผckwunsch zur Verleihung des Bundesverdienstkreuzes. Sie waren lange Jahre Pfarrer auf dem WeiรŸen Hirsch. Kรถnnen Sie sich erinnern, wie Sie Silvester 1988 und 1989 erlebten, was Sie eventuell in Ihren Predigten der Gemeinde mit auf den Weg gaben?

Christoph Flรคmig: Da mรผsste ich in den Silvesterpredigten nachschauen… Die Predigt fรผr den letzten Gottesdienst des Jahres 1988 habe ich nicht in Stichworten notiert. Hingewiesen habe ich auf Ereignisse des Jahres 1988. Zum Beispiel das Fischsterben in einem Bach in der Sรคchsischen Schweiz, das HinausstoรŸen eines Afrikaners aus einem fahrenden Zug und die Passivitรคt der Fahrgรคste, die ร–kumenische Versammlung in Dresden im Rahmen des โ€žKonziliaren Prozessesโ€, das Verbot der Zeitschrift Sputnik, dieโ€žKristallnachtโ€ sollte ab diesem Jahr โ€žJudenpogromโ€ genannt werden. Ich fragte in der Predigt, was mich und andere am Jahr 1988 schmerzt.
Ich nannte: Menschen sind weggegangen. Es fehlte ihnen an Mรถglichkeiten und an Fรคhigkeiten, diese Situation auszuhalten und zu verรคndern. Die Engstirnigkeit und Unbeweglichkeit von Trรคgern der Macht. Eigenes Versagen, wo ich nicht ermutigen konnte, รผberzeugende Mรถglichkeiten unzureichend beschrieben habe und die Nรคhe der Liebe Gottes nicht deutlich machen konnte. Eigene Blindheit gegenรผber ermutigenden Ereignissen.

Ich fragte dann, was andere und ich im Jahr 1988 lernen konnten und gelernt haben. Hier nannte ich: Sich Problemen neu stellen, sich zu รถffnen und sie nicht zu verdrรคngen, ist schmerzhaft, kostet Krรคfte und ist mรผhsam. Es ist aber mรถglich, es macht auch Freude, u.a. im Nรคherkommen zu anderen, die ร„hnliches wollen. Es ist nicht sinnlos, auch wenn Ziele und Wรผnsche irgendwie hinter dem Horizont schlummern. Diesem Horizont sind wir nรคher gekommen. Wir haben wieder entdeckt, dass die Bibel ein hochaktuelles Buch ist. Mein letzter Satz und damit das Fazit lautete: Ich liebe das Jahr1988, denn es hat mich reicher, reifer und mutiger gemacht und wichtige Teile liegen mir im Herzen. Diese Predigt ist etwa zwanzig Jahre alt. Zwischenzeitlich hatte ich sie mir nicht mehr angesehen. Ich bin angenehm verblรผfft.

Ein Jahr spรคter sah die Einschรคtzung sicher ganz anders aus?

Im letzten Gottesdienst des Jahres 1989 bezog ich mich in der Predigt auf den Monatsspruch vom Dezember โ€žAus seiner Fรผlle haben wir alle empfangen, Gnade รผber Gnadeโ€ und auf dem Lehrtext vom 31. Dezember 1989 โ€žLaรŸt uns Gutes tun und nicht mรผde werden; denn zu seiner Zeit werden wir auch ernten, wenn wir nicht nachlassenโ€.

Ich konnte sagen: Der heutige Jahresschlussgottesdienst ist fรผr mich ein Dankgottesdienst, denn ein Machtgebรคude ist zerfallen wie ein Kartenhaus; die Erschรผtterungen brachten nicht die Hammerschlรคge der Gewalt, sondern der Wind der Gewaltlosigkeit hervor; Menschen kamen aus ihren Nischen und prรคgten die ร–ffentlichkeit; Kirchen und Gemeinden ernteten die Frรผchte der zeitweise nicht geliebten Machtlosigkeit; Dankbarkeit setzt Energien frei; diese Energien sind Material, um Gutes zu tun, wie Missverstรคndnisse zu verhindern, Unrecht zu benennen, auf Risiken hinzuweisen, den Egoismus zu knacken, Gottes Erwartungen zu benennen, Proexistenz statt Konsum zu praktizieren.

Chor der Gemeinde WeiรŸer Hirsch mit ihrem Pfarrer. Foto: GroรŸe-Haupt
Chor der Gemeinde WeiรŸer Hirsch mit ihrem Pfarrer.
Foto: GroรŸe-Haupt

Die Zeit auf dem WeiรŸen Hirsch vor 1989 beschreibt Uwe Tellkamp sehr eindrรผcklich in seinem Buch โ€žDer Turmโ€. Kรถnnen Sie diese Sicht teilen?

Wenn ich an die Entwicklung und an die besonderen Ereignisse denke, die in Dresden eine Rolle gespielt haben und die die Dresdner prรคgten, so fehlen mir in diesem Buch zwei wesentliche Dinge: Die Kommunalwahlen im Jahr 1989 und der โ€žKonziliare Prozessโ€ aus dem kirchlichen Bereich, den viele Hirsch-Bewohner mit organisiert, mitgestaltet und mit vertreten haben. Von dem Anspruch ausgehend, nur den WeiรŸen Hirsch zu beschreiben, wรคren das schmerzliche Lรผcken. Ich interpretiere das Buch aber so, dass der Autor die gesamte DDR-Gesellschaft symbolisch auf dem WeiรŸen Hirsch konzentrierte.

Wie hat sich der โ€žKonziliare Prozessโ€, der 1983 in Vancouver begann, auf dem WeiรŸen Hirsch ausgewirkt?

Auf dem WeiรŸen Hirsch gab es immer ein groรŸes Interesse an elementaren Dingen. Dieses Interesse รคuรŸerte sich in vielen Gesprรคchen und fรผhrte dazu, dass sich themenbezogene Kreise bildeten und selbst organisierten. So gab es Jahre vor der Wende in der Kirchgemeindeย  u. a. einen Friedenskreis, einen Erziehungskreis, einen Kreis โ€žstud. christ.โ€ und verschiedene Elterninitiativen.

Die Mitglieder dieser Kreise hatten das groรŸe Bedรผrfnis, bestimmte Entwicklungen zu verstehen, im Rahmen ihrer Mรถglichkeiten mit zu beeinflussen, sich sprachfรคhig zu machen vor sich selbst, vor ihren Kindern und vor allem vor anderen Personen aus dem Partei- und Staatsapparat. Sie bemรผhten sich um die Botschaft, dass ihre Positionen fรผr die Gesellschaft der DDR nicht schรคdlich,ย  sondern sehr nรถtig sind. Die Themen des โ€žKonziliaren Prozessesโ€ Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schรถpfung ergรคnzten und fรถrderten das Nachdenken und Verhalten vieler Menschen auf dem WeiรŸen Hirsch.

Gaben Sie immer die Richtung in der Gemeinde vor?

Gemeindeglieder auf dem WeiรŸenHirsch legten schon vor meiner Zeit groรŸen Wert auf innere Selbststรคndigkeit. Sie verstanden sich nicht als Schafe, die von ihrem Hirten angetrieben und umsorgt werden wollten. Das Gemeindebild von einem Leib mit vielen Gliedern lag ihnen viel nรคher.ย  Jeder und Jede hatten Gaben und Begabungen, die sie einbrachten. Ich habe an diesem Selbstverstรคndnis nicht gerรผhrt. Ich habe sie an ihre speziellen Gaben erinnert. Ich habe diese Gaben im Interesse der Gemeinde genutzt. Und ich konnte meine Gaben entfalten, wie z. B. Moderation und Impulse.

โ€žMontags-Demoโ€œ auf dem Theaterplatz, November 1989. Foto: U. Haessler
โ€žMontags-Demoโ€œ auf dem Theaterplatz, November 1989.
Foto: U. Haessler

Womit beschรคftigte sich beispielsweise der Friedenskreis?

Es ging u. a. um den ganz persรถnlichen schlichten und echten Beitrag des Einzelnen zur Lebensfรคhigkeit des Friedens in dieser Hochphase des Kalten Krieges. Es ging darum, im Alltag der DDR zukunftsfรคhige und persรถnliche Zeichen des Friedens zu verwirklichen. GroรŸe Themen waren ja die vormilitรคrische Erziehung im Rahmen des Wehrkundeunterrichtes an Schulen, Wehrersatzdienst als Bausoldat und als eindeutig nichtmilitรคrische Variante der Soziale Friedensdienst. Wie schon obengesagt, spielte die Arbeit an der Sprachfรคhigkeit eine groรŸe Rolle. Das Gegenรผber aus Schule, aus Staats- und Parteiapparat sollte mich nicht als Gegner einordnen, sondern als mitdenkendes und mitgestaltendes Glied der DDR-Gesellschaft.

Im Mai 1989 gab es Kommunalwahlen in der DDR. Wie verfolgten und erlebten siedieses Ereignis auf dem WeiรŸen Hirsch?

Die Wahlen in der DDR nannten sich Wahlen, ohne diesen Namen zu verdienen. Sie waren eine hochorganisierte Form von Akklamation und damit von Entmรผndigung der Bรผrger. Wer sich dieser Akklamation entziehen wollte, musste viel Energie aufbringen und ein gewisses Risiko auf sich nehmen.

Im Frรผhjahr 1989 deutete sich ein anderes Verhalten an. Das Interesse an der Zahl der tatsรคchlichen Neinstimmen im Gegenรผber zum offiziell verkรผndeten Ergebnis war deutlich zu spรผren. Die sogenannte Kandidatenaufstellung war wie immer formal รถffentlich und fand im WeiรŸen Adler statt. Es war nicht รผblich, dabei Fragen zu stellen, aber dieser Brauch wurde erstmals durchbrochen. Besucher, auch ich, stellten Fragen, die man sich vorher nie getraut hรคtte. Fรผr den Wahltermin wurde untereinander abgesprochen, dass es gut sei, die Auszรคhlung in sรคmtlichen Wahllokalen zu besuchen und die Ergebnisse mitzuschreiben.

So geschah es. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass viele Bรผrger zur Auszรคhlung in das Wahllokal strรถmten und fleiรŸig ihre Notizen machten. Die Landeskirche sammelte die Daten und wertete sie aus. So bekam man ein realistisches Bild des Wahlverhaltens und der Wahlergebnisse, das sich von dem von Egon Krenz im Fernsehen bekannt gegeben Daten sehr unterschied. Fรผr mich war es eine groรŸe Enttรคuschung, dass das System nicht den Mut gefunden hatte, sich von seinem Ritual der 99,9 Prozent zu trennen. Auf der anderen Seite erlebte ich eine sinnvolle Solidarisierung von Menschen, die sich ein Stรผck ehrlichere DDR wรผnschten.

Pfarrer findet man sehr selten in der Politik. Waren die Wahlen und die Enttรคuschung รผber den Betrug ein Auslรถser fรผr Sie, sich politisch zu engagieren?

Die Sehnsucht, Verantwortung wahrzunehmen, auch politische, hatte ich immer. Auf meiner ersten Pfarrstelle im Vogtland fragte mich ein Gemeindeglied, das auch Mitglied der CDU war, ob ich denn bereit wรคre, in diese Partei einzutreten. Ich sagte ihm: Wenn ich eintrete, will ich mitreden, Vorschlรคge unterbreiten unabhรคngig von dem, was von oben erwartet wird. Das Modell der Akklamation sei nichts fรผr mich. Die CDU hat mich nie wiedergefragt. Ein Pfarrer nimmt ja in Ausรผbung seines Berufes gesellschaftliche Verantwortung war, da er Menschen begleitet, sich um Menschen (seel)sorgt, Gottes Zuwendung verkรผndigt. Unabhรคngig vom Gesellschaftssystem, in dem er wirkt, ist das faktisch auch politische Verantwortung, da die Gesellschaft dadurch mitgeprรคgt wird. Ich war aus diesen theologischen Grรผnden bereit, mich auch in politischen Strukturen zu engagieren.

Skulpturen der Hofkirche โ€žblickenโ€œ auf die Kรผnstler-Demonstration am 19. Novemver 1989. Foto: U. Haessler
Skulpturen der Hofkirche โ€žblickenโ€œ auf die Kรผnstler-Demonstration am 19. Novemver 1989.
Foto: U. Haessler

Wann war fรผr Sie die Ohnmacht des politischen Systems deutlich?

Ohnmacht? Ich wรผrde von Brรผchigkeit reden. Vorlรคufer waren fรผr mich die Schummelei mit den Ergebnissen der Kommunalwahl und das Abblocken des โ€žKonziliaren Prozessesโ€ durch die DDR. Verdichtet hat sich die Brรผchigkeit im Oktober 1989. Es kam zu den Botschaftsbesetzungen und zu dem Wahnsinnsprojekt,ย  die Zรผge mit den Botschaftsflรผchtlingen durch die DDR zu leiten. Das war eine tรถdliche Gier nach Souverรคnitรคt seitens der DDR. Viele Ausreisewillige strรถmten an die Dresdner Bahngleise, begleitet von innerlich sehr bewegten Dresdnern. Es folgten massive Polizeieinsรคtze, viele Verhaftungen und schikanรถse Behandlungen der Festgenommenen. Fรผr mich zeigte das System faschistoide Zรผge. Damit entwertete und entleerte es sich selbst. Da war mir klar, so kann es nicht weitergehen.

Wer Sie kennt wird wissen, dass Sie kein Barrikadenkรคmpfer sind. Sie suchen die Auseinandersetzungen mit dem Wort und nach pragmatischen Lรถsungen. Was unternahmen Sie?

Es ergab sich ein Mosaik von vielen verschiedenen Handlungen. Gemeindeglieder und ich sammelten die Namen der Inhaftierten. Fรผr jede Person brannte in der offenen Kirche stรคndig eine Kerze. Wir freuten uns sehr bei ihrer Rรผckkehr. Die Inhaftierten wurden ermutigt, Gedรคchtnisprotokolle รผber das Erlebte zu schreiben. Diese wurden vom Jugendpfarramt gesammelt und von der Kirche der Staatsanwaltschaft mit Klageaufforderung รผbergeben.

Im kleineren vertrauten Kreis wurden die Mรถglichkeiten und die Notwendigkeit politischen Engagements in der Region angesprochen. Ich beteiligte mich an den Montags-Demos. Bei jeder Gelegenheit wurde viel miteinander gesprochen, sei es auf der StraรŸe, sei es bei Veranstaltungen. Ich entdeckte, wie Menschen auf dem WeiรŸen Hirsch sich mit ihrem bisherigen Lebensentwurf beschรคftigten und รผber Verรคnderungen nachdachten.

Vor einigen Tagen รผbergab mir eine Bekannte eine Kirchenblatt der Kirchgemeinde WeiรŸer Hirsch, das sie beim Aufrรคumungen wieder gefunden hatte. Es war das Exemplar fรผr die Monate Dezember 89 und Januar 90. Darin war eine Dreiteilung รผblich: 1. Veranstaltungen; 2. Allgemeine Informationen; 3. ThematischesWort, in der Regel vom Pfarrer geschrieben. Das thematische Wort habe ich bereits im Oktober formuliert, da das Manuskript der Druckgenehmigungsstelle vorgelegt werden musste. Ich wollte auf die neue Situation eingehen und eine Deutung versuchen. So verglich ich die DDR mit einer Bahn im permanenten Kreisverkehr und schrieb: โ€žInzwischen fuhr der Zug so langsam, dass die Mitfahrer beschlossen, zu FuรŸ weiterzugehen. So erreichten sie vor dem Zug die nรคchste Weiche. Diese Weiche stellten sie um, damit der Zug aus dem Kreisverkehr herausfahren konnte. Als der Zugfรผhrer mit seinem Personal dies bemerkte, schimpfte er krรคftig, verlangte Wiederherstellung des alten Zustandes und hielt den Zug an. Da schoben ihn die ausgestiegenen Mitfahrer mit Hรคnden und FรผรŸen รผber die umgestellte Weicheโ€. Botschaft sollte sein, dass von Weichenpflege und Weichenkontrolle es abhรคngt, wohin der Zug unserer Gesellschaft fรคhrt: Auf der Strecke ausgefahrener Erstarrung oder auf der Strecke echter Verรคnderung. SinngemรครŸ schrieb ich in einem Nachsatz รผber und fรผr den Mitarbeiter der Druckgenehmigungsstelle, wenn dieser Beitrag unverรคndert im Dezember im Kirchenblatt zu lesen ist, hรคtte er wichtiges von den Verรคnderungen begriffen. Es war รผbrigens das letzte Kirchenblatt, das die Dienststelle der Druckgenehmigung passieren musste.

Im November fiel urplรถtzlich die Mauer. Wie erlebten Sie dieses historische Ereignis?

Die Tage im September, Oktober und November waren geprรคgt von Ausreisen aus der DDR und von weiteren neuen Antragstellungen โ€“ ein Aderlass, der zur Leblosigkeit der Restbevรถlkerung hรคtte fรผhren kรถnnen. Insofern war dies fรผr mich ein groรŸes und bedrรผckendes Thema. Und oft ist es so, dass groรŸe und kleine Ereignisse sich neckisch ergรคnzen. Einer meiner im Westen lebende Onkel feierte Mitte November einen hohen und runden Geburtstag und ich hatte die Reisegenehmigung bereits in der Tasche. Diese partielle Reisefreiheit hat mich von den anderen Ungerechtigkeiten etwas abgelenkt. Den Fall der Mauer habe ich mit staunendem Zรถgern erlebt. Die Schizophrenie des Systems wurde gravierend deutlich. Wenn Offiziere an der Grenze plรถtzlichย  sagen, lassen wir es laufen, heiรŸt das ja vor allem, dass alle Argumente, die vorher an sie herangetragen wurden, ihr negatives Vorzeichen verloren hatten. Das Entscheidende war nicht, dass sich Beton bewegte, sondern das Verantwortungstrรคger des Systems an Schaltstellen begriffen: Die Entwicklung ist weitergegangen. Es ist klug, wenn wir das respektieren.

Welche Wege suchten Sie, sich politisch Gehรถr zu verschaffen. Hatten Sie Kontakte zum โ€žNeuen Forumโ€ oder zur โ€žGruppe der 20โ€?

Uns beschรคftigte natรผrlich die Frage: Wie sollte und wie kรถnnte es weitergehen? Mit Sehnsรผchten, mit Wรผnschen und auch mit Ideen waren wir reichlich gefรผllt. Welche Form sollte unsere Bereitschaft zur Verantwortung bekommen? Ein konkretes Ergebnis war die offizielle Grรผndung der Bรผrgervertretung WeiรŸer Hirsch Anfang Dezember. Da die Vorbereitungsgruppe komplett zur Kirchgemeinde gehรถrte, nutzten wir dafรผr die Kirche. Es gab einen Vorstand, in dem ich den Vorsitz รผbertragen bekam. Wir bildeten Arbeitsgruppen. Darin konnte jeder mitarbeiten, auch unabhรคngig von seiner politischen Vergangenheit. Wir suchten die Vernetzung mit anderen Bรผrgervertretungen. In der Stadt hatte die โ€žGruppe der 20โ€ ebenfalls Arbeitsgruppen gebildet und suchte ebenfalls Kontakt zu den Bรผrgervertretungen im Gebiet von Dresden.

Es mรผndete in die Vorbereitung auf die Kommunalwahlen. An Parteien wollte ich mich nicht binden. So schloss ich mich derโ€žFreien Wรคhlervereinigung โ€“ Gruppe der 20โ€ an,ย  wurde gewรคhlt und blieb nach meiner Wiederwahl1994 bis 1997 im Stadtrat.

Das Bundesverdienstkreuz fรผr Christoph Flรคmig aus der Hand von Bundesprรคsident Horst Kรถhler.  Foto: Jรผrgen Frohse
Das Bundesverdienstkreuz fรผr Christoph Flรคmig aus der Hand von Bundesprรคsident Horst Kรถhler.
Foto: Jรผrgen Frohse

Konnten Sie den Pfarrer mit dem Politiker in ihrer Person vereinen?

Politisches Engagement war fรผr mich nicht zu trennen von kirchlichem Engagement. Was ich politisch einbrachte, tat ich als Pfarrer, auch im Stadtrat. Ich verstand mich dort auch als Vertreter meiner Kirche. Sachlichkeit im Umgang mit den Argumenten anderer Fraktionen und die menschliche Hochachtung gegenรผber Mitgliedern anderer Fraktionen waren mir wichtig. Einen vรถlligen Wechsel in die Politik unter Verzicht auf kirchliche Bindungen und ร„mter habe ich bei gezielten Nachfragen immer abgelehnt. Von diesem Fundament wollte ich mich nicht lรถsen. Ich leide heute noch darunter, wenn man den politischen Gegner menschlich fertig macht, weil die Sachargumente fehlen. Fรผr mich ist das u. a. Missachtung der Wende.

Kรถnnen Sie konkret Entscheidungen benennen, die Sie im Stadtrat auf den Weg brachten oder Ihnen besonders am Herzen lagen?

Interessanterweise fallen mir zuerst die Beschlussvorlagen ein, die ich abgelehnt habe. Dazugehรถren der Wiederaufbau der Frauenkirche und der Bau der WaldschlรถรŸchenbrรผcke. Bei der Frauenkirche sah ich in der Ruine eine bessere Nachdenk- und Lernmรถglichkeit fรผr die Dresdner und ihre Gรคste. Die Mehrheit sah das anders. Inzwischen respektiere ich die getroffenen Entscheidungen. Anbetung und Kultur bilden im Alltag den Schwerpunkt dieser Kirche. Die Idee eines Friedenszentrums benรถtigt aber noch eine Menge geistige und geistliche Investitionen.

Die Zahl der Beschlussvorlagen, denen ich zugestimmt habe, geht in die Hunderte. Konkret mรถchte ich die Entscheidung รผber das Sanierungsgebiet Loschwitz nennen, wo ich durch einen Ergรคnzungsantrag Loschwitz in den Kreis der Sanierungsgebiete mit aufnehmen lassen konnte. In der Anfangsphase des Stadtrates gab es einen fraktionsรผbergreifenden Personalausschuss, der die Ablรถsung alter Kader und sinnvolle Neubesetzungen als Aufgabe hatte. Ich gehรถrte dazu und habe in dieser Runde z. B. Peter Rauch als Leiter des Ortsamtes Loschwitz vorgeschlagen. Dafรผr gab es grundsรคtzlich grรผnes Licht. Allerdings verlangte OB Wagner โ€“ wir tagten am Abend โ€“ bis zum nรคchsten Morgen 8 Uhr die Zustimmung des Vorgeschlagenen. Peter Rauch hat dann statt zu schlafen eine Nacht darรผber nachgedacht und am Morgen zugesagt.

Mit den Volkskammerwahlen wurde immer deutlicher, dass ein sogenannter dritter Weg nicht mรถglich war und die DDR-Bรผrger die Einheit wollten. Sie hatten Sympathien mit dem Sozialismus-Modell, wie Sie vorhin sagten. Tat es Ihnen leid?

Ich meine, dass das Sozialismus-Modell in der Urform des Wortes in die politische Landschaft unserer Erde gehรถrt. Der Kapitalismus braucht Alternativen und Infragestellungen, sonst verfettet er. Sozialismus und Diktatur einer Gruppe gehรถren nicht automatisch zusammen. Wir haben eine sehr erbรคrmliche Kombination davon erlebt. Darum ist es nicht schade.

Es verwundert mich โ€“ Sie als ein Mann der Kirche finden Gefallen an sozialistischen Ideen?

Mir geht es um das gedankliche Modell, nicht um die Wiederholung bereits erlebter sogenannter Umsetzungsversuche.

Glaube und Kirche hatten aber in den Theorien der Marxisten keinen Platz.ย  Andere sozialistische Regime, siehe die Tschechoslowakei, gingen auch viel rabiater mit Glaubensanhรคngern um.

Darรผber mรผsste man reden. Es gibt das Ur-Modell und die Ausformungen und Interpretationen. Es ist ja auch interessant, dass das Modell kurzfristig wieder bei vielen Menschen Interesse weckt. Denken Sie an die Finanzkrise.

In die Nachwende-Jahre fiel auch das Engagement der Gemeinde WeiรŸer Hirsch fรผr das Kinderheim bei Winniza. Wie kam es dazu?

Das ehemalige Lahmann-Sanatorium wurde zu DDR-Zeiten von der Roten Armee als Lazarett genutzt. Die Bevรถlkerung vom WeiรŸenHirsch litt sehr darunter, dass bei dieser Nutzung die Gebรคude rapide verfielen. Nach 1990 gingen Gemeindeglieder, fรผr mich federfรผhrend Ilona Braun, gezielt ins Sanatorium und dokumentierten den Bauzustand. Dabei entstand auch zwischenmenschlicher Kontakt zu den damaligen Nutzern, den Offizieren und Soldaten der Roten Armee. So erfuhren wir, dass die โ€žSiegerโ€ faktisch als โ€žGeschlageneโ€ in vรถllig ungeklรคrte Verhรคltnisse in ihre Heimat zurรผckkehren wรผrden. Wir haben uns nicht bei Schadenfreude aufgehalten. Wir haben nach sinnvollen Reaktionen gesucht. Dabei stand das kirchliche Modell der Partnergemeinden Pate. Jede Kirchgemeinde im Osten hatte eine Partnergemeinde im Westen. Es ging um ideellen Austausch, von Zeit zu Zeit um materielle Hilfe. Die Kirchgemeinde WeiรŸer Hirsch hatte mit ihrer Partnergemeinde in Hannover-Limmerein ein Gegenรผber, das geradezu ideal war.

Was wir an Gutem in diesem Partnermodell erfahren hatten, wollten wir sinnvoll รถstlich von uns weitergeben. Als feststand, dass die Russen das Lazarett verlassen werden, haben wir einen Brief verfasst, worin sinngemรครŸ stand, dass wir uns รผber die politische Entwicklung und das Ende des Kalten Krieges sehr freuen, aber konkrete Hilfe anbieten wรผrden. Wir wรคren bereit, ein soziales Projekt zu unterstรผtzen und bitten darum, diesen Brief an Krankenhรคuser und soziale Einrichtungen weiterzugeben. Etwa zehn Briefe, ins Russische รผbersetzt, gaben wir mit und warteten Monate auf Antwort. Sie kam. Dazu wird erzรคhlt, dass ein Soldat seinen Brief seiner Oma gab. Diese Oma kannte jemanden in einer orthodoxen Gemeinde.

Diese orthodoxe Gemeinde betreute ein Kinderheim mit etwa 300 Schรผlern. Ein Mitglied dieser Gemeinde reagiert mit einer behutsamen Bitte um Hilfe. Daraus entstand eine der typischen Hirsch-Aktionen. Eine Gruppe von Gemeindeglieder sagte: Da fahren wir hin! Geld und Sachen wurden gesammelt, Autos gemietet, Lebensmittel gekauft. Mitten im Winter wurde gestartet. Sie fanden die Kontaktperson und das Kinderheim. Die Kirchgemeinde unterstรผtzteย  dieses Kinderheim รผber zehn Jahre.

Sie beschrieben am Anfang das Jahr 1988 als gutes Jahr, wo Sie sich Problemen stellten, Sie nichts verdrรคngten und dem Horizont ein Stรผck nรคher gekommen waren. 1989 und 1990 mรผssen Sie demnach den Horizont erreicht haben?

Ich glaube, es war der Tag des Anschlusses an die BRD, als ich eine Predigt mit folgender Aussage hielt: Es beginnt nicht das Paradies, aber die VerheiรŸungen Gottes gelten weiter.

Ein schรถnes Schlusswort und ich bedanke mich herzlich fรผr das Interview.