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Universum der vergangenen Augenblicke
Im Interview mit dem Elbhang-Kurier รคuรert sich Uwe Tellkamp, Autor des erfolgreichen Romans โDer Turmโ, รผber Vergangenes, Gegenwรคrtiges und Kรผnftiges
Bei seiner Lesung unlรคngst in Dresden sprach der Autor Uwe Tellkamp davon, dass er in der am Kรผchentisch im fernen Freiburg im Breisgau entworfenen Ortsskizze zu seinem Roman โDer Turmโ den ELBISCHEN FLUSS quasi auf die Hรถhe der Grundstraรe verlegt habe. Wer daraufhin die kommentierte โLandkarteโ in seinem Buch im โMaรstab 1:1001โ als launige Draufsicht auf die Geburtsstadt noch einmal eingehend studiert, erlebt wahrhaft viele Irritationen. Und entdeckt auch den markanten โElbeinschnittโ โ irgendwo zwischen Standseilbahn und Schwebebahn.
Zeichnerisch wie literarischย ist deutlich der Elbhang anvisiert โ ein mit Genuss ausgekosteter Spielraum von Dichtung und Wahrheit, wo sich Bekanntes, Unbekanntes, Vergessenes, Verwandeltes, Ersonnenes miteinander verquicken. Keine Frage: Uwe Tellkamp und seine mit dem Deutschen Buchpreis gekrรถnte โGeschichte aus einem versunkenen Landโ sind vehement ins Blickfeld vom ELBHANG-KURIER gerรผckt, den die Familie รผbrigens in Freiburg bezieht. Und so hat sich auf der Basis gemeinsamer Vorlieben erfreulicherweise die Mรถglichkeit fรผr ein Interview ergeben, und dieses soll nachfolgend vorgestellt werden.

Foto: Gabriele Gorgas
Elbhang-Kurier: Rundum im Lande und besonders natรผrlich auch in Dresden wird gerรคtselt, wer sich hinter Ihren literarischen Gestalten verbirgt. Sind Sie verblรผfft oder amรผsiert, so beim Wort genommen zu werden?
Uwe Tellkamp: Meine Figuren haben Vorbilder, aber man kann sie nicht eins zu eins auf ein Vorbild beziehen. Meist sind Figuren, so auch meine, zusammengesetzt, รผbernehmen Eigenarten vom Vorbild A, Biographisches vom Vorbild B, รuรerlichkeiten vom Vorbild C. Lebendige Romanfiguren (solche, die lebendig in der Vorstellung des Lesers wirken) entwickeln sehr bald ein Eigenleben, das sie von allem bloร รbernommenen entfernt. Natรผrlich wird jeder Dresdner Leser wissen, dass das Institut meines Barons von Arbogast gewisse รhnlichkeiten mit dem Institut von Ardenne hat. Arbogast aber ist ein Hรถllenbote, womรถglich ein schwarzer Zauberer โ und spรคtesยญtens dort dรผrften die Parallelen enden. รberhaupt ist mein Buch nur unter Vorbehalt als sogenannter realistischer Roman zu lesen, Mรคrchenhaftes und Phantastisches โ E.T.A. Hoffmann ist ein heimlicher Pate hinter den Kulissen โ รผberwuchern die Szenerie. Wofรผr ich gute Grรผnde hatte, denn die DDR und das Dresden der achtziger Jahre, in dem die Uhren schlugen, die Zeit aber stillstand, wo die Elbe vergiftet um die Zimmer kreiste und ihr Totenwachs ablagerte, wo die Eisblumen รผber Tรผren und Treppen krochen, war ein Mรคrchengebiet in einer Mรคrchenzeit.
Was treibt einen Autor, ein so voluminรถses Buch zu schreiben? Fรผrchten Sie nicht โSchwellenรคngsteโ bei Ihren Lesern? Und was bewegt Sie besonders in Ihren Gesprรคchen an so unterschiedlichen Orten?
Thomas Mann, mit dem mich viel verbindet, sagt sinngemรคร, nur das Grรผndliche sei wahrhaft unterhaltsam. Es ist die Fรผlle der Geschichten, der Reichtum an Erfahrungen, der das Buch an Umfang und, ich denke doch, auch an Inhalt reich gemacht hat. Es ist kein aufgeblasenes oder vollgestopftes Buch, sondern alle seine Kapitel und alle seine Beschreibungen sind wohlerwogen, haben ihren Sinn. Ich schreibe nicht einfach so daher, รผbrigens muss man schon dem Lektorat und den Verlags-Vertretern recht gut Rede und Antwort stehen kรถnnen, ehe ein Buch, ein umfangreiches zumal, gedruckt wird. Motive, die unter der eigentlichen Handlung weben, verlangen nach Ausarbeitung, Figuren entwickeln sich und mรผssen, will man als Autor รผberzeugend schreiben, in ihrer Entwicklung plausibel gestaltet werden. All das braucht erzรคhlerischen Raum.
Dennoch: In einem guten Buch, wie ich es verstehe, darf nichts รผberflรผssig sein. Und auch, wenn das hier und dort gedacht wird: Im ยปTurmยซ ist nichts รผberflรผssig. Was Ihre Frage nach den Schwellenรคngsten betrifft: Mag sein, dass ein dickes Buch zunรคchst einen potentiellen Leser abschreckt, doch auch in einem dรผnnen Buch muss man die erste Seite aufschlagen, wenn man es lesen will. Ist das Buch gut, fesselt es den Leser, gleichgรผltig, ob dรผnn oder dick, er will weiterlesen. Liefert das Buch eine Welt mit ihren Sinneseindrรผcken, ihren Details und Geschichten, will er sie bewohnen und wird traurig sein, wenn das Buch zu Ende ist. Ich bekomme derzeit viele Briefe von Lesern des ยปTurmsยซ, denen die knapp 1000 Seiten nicht genรผgen, sie fragen nach einer Fortsetzung, wollen wissen, wie es mit Christian, Richard, Meno und Anne weitergeht.

Foto: Archiv Uwe Tellkamp
Es gibt in Ihrem Roman einiges, was Sie spรผrbar geradezu magisch anzieht, und dazu gehรถren beispielsweise auch Schallplatten als Metaphern des dinglichen Seins. Offenbar reizt Sie die Magie der Dinge?
Die Magie der Dinge ist eine Magie der Menschen, die sie mir nahebrachten und die ich damit verbinde. Es ist mir unvergessยญlich, wie mich mein Onkel nach der Schule nach oben rief und mir verschiedene Aufnahmen eines Musikstรผcks vorspielte; ich erinnere mich besonders an ยปTannhรคuserยซ unter Fritz Busch, Rudolf Kempe, Artur Rother und Hans Knappertsbusch, an die ยปDon Giovanniยซ-Aufnahmen unter Karl Elmendorff (die vielleicht die schรถnste รผberhaupt ist, leider scheint Elmendorff, obwohl ehemals Dresdner Dirigent, fast vergessen), Wilhelm Furtwรคngler und Karl Bรถhm. Viele Musiker lebten und leben auf dem Weiรen Hirsch, sommers hรถrte man bei offenen Fenstern nahezu auf jeder Straรe Musik. Schallplatten, vor allem die der Deutschen Grammophon, die โ schwarze Scheibe und gelbes Etikett โ die Wappenfarben Dresdens aufnahm, von Eterna und Melodia haben meine Kindheit geprรคgt und sind, als Symbol, fรผr mein Autorenleben wichtig geworden, denn eine Schallplatte ist auch ein Doppel-Labyrinth (die fortkreisende Rille auf A- und B-Seite), das berรผhrt das innerste Motiv meines Schreibens.

Foto: Archiv Uwe Tellkamp
Die Beschreibung von Ostrom irritiert trotz allem Wissen um Dichtung und Wahrheit gewiss jeden, der nach einem Areal in dieser Verquickung in unmittelbarer โHirschnรคheโ sucht.
Jedes Buch entwirft, wenn es eine Welt zu erfassen versucht, auch ein Modell dieser Welt, und das tut auch mein Roman ยปDer Turmยซ. ยปDie Kohleninselยซ, wie ein Kapitel รผberschrieben ist, in dem es um einen finsteren Behรถrdenbezirk in eben jenem fiktiven Viertel ยปOstromยซ geht, wird man im realen Dresden nicht finden, dennoch aber wird der sozialismuserfahrene Leser dieser Vision Wahrhaftigkeit nicht absprechen kรถnnen. Obwohl sie eine Vorstellung widerspiegeln, halte ich die Kohleninseln des Sozialismus fรผr รผberaus real. Sie sind eine Zusammenfassung dessen, was wir uns vorstellen, wenn wir Gelbes Elend/Bautzen, Staatssicherheit, Behรถrdenwillkรผr, Mosยญkauer Lubjanka, Akten und Verwaltungsapparat denken.
Dresden und speziell der Weiรe Hirsch ist der Ort Ihrer Kindheit und Jugend. Kรถnnten Sie sich auch vorstellen, wieder in Dresden zu leben und zu arbeiten? Oder brauchen Sie die Distanz, um sich die Draufsicht zu bewahren, schรคrfer sehen zu kรถnnen?
Meine Frau und ich kรถnnen es uns nicht nur vorstellen, wir mรถchten es auch sehr gerne. Nur ist meine Frau beruflich in Freiburg, wo wir jetzt leben, gebunden. Der kรผnstlerischen Arbeit kann Distanz ja durchaus fรถrderlich sein, aber ich kann auch in Dresden Distanz zu Dresden haben, zumal sich die Stadt entwickelt und verรคndert. Denn was ist Dresden? Im Grunde die Vorstellung eines jeden, der darรผber spricht. Es gibt kein Dresden, das fรผr alle gleichermaรen verbindlich ist. Ein Ingenieur wird die Stadt anders sehen als ein Musiker. Dresden wird gerne als Musikstadt, Stichwort Staatskapelle und Semperoper, wahrgenommen; aber mindestens so sehr wie Musikstadt war Dresden auch eine Stadt der Pharmazie, der Kinos (manche sprechen von der ยปWelthauptstadt der Kinematographieยซ!), der Nahrungs- und Geยญnussยญmittelindustrie, der Nรคh- und spรคter der Schreibmaschinen; Dresden war eine Hauptstadt der Zauberkunst: Der kรผrzlich verstorbene Manfred Scholtyssek leitete die Zauberkunstzirkel der DDR โ und wohnte auf dem Weiรen Hirsch meiner Familie gegenรผber.
Dresden als Ort meiner Kindheit und Jugend: Ich nenne es das Universum der vergangenen Augenblicke, und dieser Bezirk beschรคftigt wohl jeden Autor immer wieder. Hier habe ich die Original-Eindrรผcke erlebt โ wenn ich ยปFlussยซ denke, denke ich an die teerschwarze Elbe meiner Kindheit und nicht etwa an den Rhein oder die Donau. Ich hรถre das Gerรคusch der Kohlenschippen aus der Kohlenhandlung am Riรweg, oben auf dem Weiรen Hirsch, einst Hรถhen-Radbahn des Lahmannschen Sanatoriums. Ich sehe den leeren, in die Tasche genรคhten รrmel des Mathematiklehrers und Kriegsheimkehrers Oskar Schirrmacher vor mir, erinnere mich, wie ich zum ersยญten Mal das Wort Bomรคtscher hรถrte. Erinnere mich an das erste selbstverdiente Geld, ein 50-Pfennig-Stรผck, das ich von einer alten Frau fรผrs Kohlenschleppen bekam, die noch Hofdame am letzten sรคchsischen Kรถnigshof gewesen war. Erinnere mich an die Leidenschaft in den Gesprรคchen im Familienkreis, wenn es um den (sozialistischen) Alltag und die politischen Verhรคltnisse ging, an die ebenso nostalgische und besessene wie problematische Liebe derer, die ich die ยปTรผrmerยซ nenne, zu Dresden, zur Musik und ihren Namen.

Foto: Archiv Uwe Tellkamp
In Ihrer launigen Ortsskizze verlegen Sie den Elbischen Fluss etwa auf die Hรถhe der Grundstraรe. Wรผrden Sie auch gern den aktuellen Brรผckenbau irgendwohin in die Wildnis verbannen?
Fรผr den Brรผckenbau hat eine Mehrheit der Dresdner Bรผrger gestimmt, das sollte man in einer demokratischen Gesellschaft respektieren. Ob das fรผr die nun geplante Brรผcke geschah, ist eine andere, gesondert zu betrachtende Frage. Auch ich bin ursprรผnglich ein Brรผckengegner gewesen, habe mich aber einmal morgens, bei einem Fototermin, aufs Blaue Wunder gestellt. รber die Brรผcke ging ein geradezu unendlicher Verkehr, wie Kafka im ยปUrteilยซ schreibt. Und was geschieht, wenn das Blaue Wunder einmal saniert werden muss? Das kรถnnte bald der Fall sein mรผssen. Ich glaube, dass es eine neue Elbquerung braucht โ ob nun Brรผcke oder Tunnel, darรผber lรคsst sich trefflich streiten. รbrigens, so habe ich mir von einem Ingenieur sagen lassen, war an der Stelle, wo man jetzt die Waldschlรถรchenbrรผcke baut, schon frรผher eine Querung geplant. Das Kollwitz-Ufer macht auf dieยญser Hรถhe einen straรentechnisch nicht anders begrรผndbaren Knick.
Wie erleben Sie heute Orte und Leute Ihrer Geschichte aus einem versunkenen Land?
Alles hat sich verรคndert, und nicht immer zum Guten. Meine Generation, zum Teil auch die meiner Eltern, hat es in alle Winde verstreut, man folgte den Arbeitsplรคtzen. Die in Dresden wie รผberhaupt im Osten zunรคchst einmal wegfielen, weil der Sozialismus das Land heruntergewirtschaftet hat, das mรถchte ich gegen alle Ostalgie, die viel vergisst, deutlich klarstellen. Dresden ist keine wirklich groรe Stadt, aber es beginnt sich, so scheint es mir, allmรคhlich von den Wunden der Vergangenheit zu erholen. Und es ist und bleibt meine Heimat, zu der ich eine zwar kritische, aber leidenschaftliche Liebe hege. Es mag pathetisch klingen, aber wenn ich Lesungen habe, bin ich auch eine Art Botschafter, verteidige die Stadt und dieย โ das wird man feststellen, wenn man herumkommt โ, sehr seltene und liebenswรผrdige Eigenart ihrer Bewohner.

Foto: Archiv Uwe Tellkamp
Sie sind ein bekennender Leser vom Elbhang-Kurier. Ist das fรผr Sie so eine Art Regenbogen aus der Heimat? Und sind Sie als gebรผrtiger Dresdner in Ihrer Familiengeschichte in Sachsen verwurzelt, haben Sie neben Freunden und Bekannten auch noch Verwandte in der Stadt?
Der Elbhang-Kurier informiert mich detailliert und ausgiebig รผber die Geschehnisse im Biotop des Elbhangs, aus dem ich stamme. Er ist also so etwas wie ein Fernrohr fรผr mich, durch das ich, gewissermaรen, schauen kann, wenn ich ihn lese. Und da ich noch viele Verwandte, Freunde und Bekannte in Dresden habe, bin ich gern auf dem laufenden. Auch lese ich mit groรer Anteilnahme die Geschichten รผber Menschen aus meiner Heimat, so z. B. die schรถne Reportage Sonja Bernstengels รผber die ยปStraรe der รfenยซ an der Grundstraรe oder die รผber Leonhardis Tintenfabrik. Die Tellkamps kommen ursprรผnglich aus Hamburg, erst mein Urgroรvater ist die Elbe ein wenig aufwรคrtsgewandert.
Ihr konsequenter Zeiteinschnitt 1989 lรคsst vermuten, dass Sie vom โTurmโ aus auch noch die endlose Weite betrachten werden. Sie sprechen von einer literarischen Groรbaustelle. Womit kรถnnen wir in den nรคchsten Jahren rechnen?
Zunรคchst mรถchte ich einige ยปkleinereยซ Bรผcher verรถffentlichen, eins davon รผber das Leben mit meinem Sohn Meno Nikolaus, der zwei Jahre alt ist. Es soll ยปDer Zitronenrabeยซ heiรen und ganz im Hier und Heute spielen. Auch plane ich die Fortsetzung des ยปTurmยซ-Stoffs und die Weiterarbeit an einem alten Projekt namens ยปDer Nautilusยซ, einer Dichtung, die tief in die Verganยญgenheit des 20. Jahrhunderts forscht. Lassen Sie sich รผberraschen.
Das Gesprรคch fรผhrte Gabriele Gorgas